Die Entscheidung der Europäischen Union, ein gemeinsames Hilfsprogramm zu starten, ist historisch. Die Summen, um die es dabei geht, sind atemberaubend. Doch was bedeuten die Zahlen, die auf dem EU-Gipfel entschieden werden, tatsächlich für 450 Millionen EU-Bürger und 83 Millionen Deutsche?
Wo, liebe Leser, ist Ihr Teil vom Kuchen?
Es ist ein bisschen Mathematik erforderlich, um die gigantischen Zahlen des EU-Gipfels in Perspektive zu rücken. Fangen wir mal ganz oben an. 1800 Milliarden Euro EU-Haushalt und Corona-Hilfen, das sind pro EU-Bürger ziemlich genau 4000 Euro.
Davon sind 1070 Milliarden für die ganz normalen EU-Haushalte der Jahre 2021 bis 2027 vorgesehen. Also rund 150 Milliarden im Jahr oder 340 Euro im Jahr pro Nase. Kann man sich merken.
Hinzu kommen jetzt die 750 Milliarden Euro des Corona-Hilfspakets, die in den kommenden drei Jahren komplett zugesagt und möglichst weitgehend auch ausgegeben werden sollen. 390 Milliarden davon sind Zuschüsse - das sind 867 Euro pro Kopf, grob 900 Euro. 360 Milliarden Euro sind Kredite – das sind dann jeweils 800 Euro.

Hermann-Josef Tenhagen, Jahrgang 1963, ist Chefredakteur von "Finanztip". Der Verbraucher-Ratgeber ist Teil der gemeinnützigen Finanztip Stiftung. "Finanztip" refinanziert sich über sogenannte Affiliate-Links. Mehr dazu hier. Tenhagen hat zuvor als Chefredakteur 15 Jahre lang die Zeitschrift "Finanztest" geführt. Nach seinem Studium der Politik und Volkswirtschaft begann er seine journalistische Karriere bei der "Tageszeitung". Dort ist er heute ehrenamtlicher Aufsichtsrat der Genossenschaft. Auf SPIEGEL.de schreibt Tenhagen wöchentlich über den richtigen Umgang mit dem eigenen Geld.
Klingt alles schon nicht mehr ganz so groß und unüberschaubar? Dann hat das Rechenspiel ja seinen Zweck erfüllt.
Bleibt zu klären, wofür dieses Geld nun ist. Fangen wir mit den Corona-Hilfen an. Die sollen jenen Menschen in den EU-Ländern helfen, die besonders hart von der Corona-Krise getroffen sind. Um das zu beurteilen, hat die EU-Kommission einen einfachen Maßstab entwickelt: Wo die Wirtschaft hinterherhinkt und die Arbeitslosigkeit zuletzt schon hoch war, soll besonders viel Geld fließen. Und da die Beamten in Brüssel ja nicht wissen, wo das Geld in den Ländern besonders dringend gebraucht wird, sollen die einzelnen Länder der Kommission vorschlagen, wofür sie das Geld haben wollen und was sie damit erreichen wollen. Vorschlagen!
Die Brüsseler Beamten sollen dann schnell die Vorschläge prüfen und ihr Okay geben. Das Geld soll schließlich rasch ankommen, wo es gebraucht wird. Zu rasch aber auch nicht. Denn hat Brüssel Zweifel an den Vorschlägen oder erklärt etwa die finnische oder portugiesische Regierung, das für Bayern oder Katalonien angedachte Geld würde zum Fenster hinausgeworfen, dann darf das Geld zunächst nicht ausgezahlt werden. Auch die Bundesregierung kann Zweifel an Programmen für andere Länder äußern. Die Staats- und Regierungschefs müssen dann mit qualifizierter Mehrheit entscheiden, dass die Vorschläge doch vernünftig sind – oder eben nicht. Qualifizierte Mehrheit heißt, mindestens 15 Mitgliedsländer sind dafür – mit mindestens 65 Prozent der EU Bevölkerung.
Im Jahr 2023 dann sollen die Beamten noch mal gucken, ob das Geld auch wie angekündigt eingesetzt worden ist und ob die genannten Ziele erreicht werden. Wenn nicht: Für das letzte Jahr will man die Verteilung sowieso nochmals ändern.
Besonders viel Geld sollen dann Länder bekommen, in denen die Wirtschaft wegen Corona besonders stark geschrumpft ist. Aktuell ist für Italien, Spanien und auch Frankreich 2020 ein Schrumpfen der Wirtschaft um mehr als 10 Prozent prognostiziert.
Experten in Brüssel rechnen vor, dass die Koppelung an die Verluste beim Bruttosozialprodukt statt der Arbeitslosigkeit dafür sorgen, dass Deutschland und Frankreich 2023 deutlich mehr Geld aus dem Hilfstopf bekommen könnten, Polen und auch Spanien deutlich weniger.
Im normalen EU-Haushalt mit seinen 340 Euro Ausgaben pro Nase und Jahr wird das Geld im Wesentlichen nach den gleichen Kriterien wie bisher ausgegeben. Länder und Regionen, denen es wirtschaftlich schlecht geht, bekommen mehr Geld. Wirtschaftlich schlechter heißt: Dort erwirtschaften die Menschen weniger als 75 Prozent des durchschnittlichen Bruttosozialprodukts in der EU.
Die Landwirtschaft in der EU bekommt mit der Gießkanne ganz viel Geld. Nach dem Prinzip "je größer der Betrieb desto mehr". 35 Milliarden Euro im Jahr gehen allein für diese Direktzahlungen drauf. Und ganz zum Schluss hat Bundeskanzlerin Angela Merkel noch mal 650 Millionen Euro speziell für Ostdeutschland ausgehandelt. Obwohl es dort wirtschaftlich besser aussieht als in weiten Teilen der EU – und Corona-Fälle tatsächlich weitaus seltener sind.
Das heißt auch: Was konkret mit den Corona-Hilfen gemacht wird, steht noch nicht fest, nur wofür es prinzipiell ausgegeben werden kann, da gibt es ziemlich klare Vorgaben.
Und wer bezahlt das alles?
Der normale EU-Haushalt wird aus Zöllen der EU und vor allem aus den Haushalten der 27 Mitgliedsländer bestritten. Maßstab für den Scheck, den jedes Land schreibt, ist die Wirtschaftskraft. Ist die Wirtschaft stärker und sind die Menschen reicher, muss das Land mehr zahlen, arme Länder werden weniger zur Kasse gebeten.
Zieht man dann ab, was als Geld auch in die reichen Länder zurückfließt (Landwirtschaft, Raumfahrtprogramme, etc.) wird klar, wer die Nettozahler sind. Größter Nettozahler war zuletzt immer Deutschland mit den meisten Einwohnern und einer florierenden Wirtschaft – pro Kopf 160 Euro. Doch auch die Niederländer, die Österreicher, die Franzosen und die Italiener (!) waren stets große Nettozahler, dann noch die Skandinavier.
Die größten Empfängerländer nach Milliarden sind Polen und Ungarn. Pro Kopf der Bevölkerung profitieren sie schon bislang mit über 500 Euro im Jahr (Ungarn) und 325 Euro (Polen).
Ganz so viel wie netto nach dem Verteilungsschlüssel eingezahlt werden müsste, zahlen aber auch wir Deutsche nicht ein. Seit Jahrzehnten gibt es Nachlässe – es wird also weniger eingezahlt als ausgerechnet. Maggie Thatcher mit ihrem Briten-Rabatt hat Nachfolger im Geiste. In den kommenden sieben Jahren zahlt Deutschland danach je 3,7 Milliarden Euro weniger netto ein als eigentlich angemessen, die Niederländer sparen sich Jahr für Jahr eine Milliarde.
Das Geld fürs Corona-Programm soll die EU-Kommission sich zunächst leihen. Und dann ab 2026 bis 2058 zurückzahlen. Die 360 Milliarden Euro Kredite werden von den Ländern zurückgezahlt, die sie genommen haben, wenn denn so viel Kredit überhaupt aufgenommen wird. Die Zuschüsse sollen einerseits aus dem EU-Haushalt, vor allem aber über eine Plastikabgabe, einen CO2-Zoll für energieintensive Importe von außerhalb der EU und über eine Digitalsteuer abgestottert werden.
Das Ziel der meisten Geldströme ist klar: Haben möglichst viele Europäer Geld zum Konsumieren auf dem Konto, profitieren sie gegenseitig, auch über die Brutto-Netto-Rechnerei hinaus.
Soweit die Zahlen. Aber was bedeuten die für Sie?
An der Stelle habe ich fünf Botschaften:
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Erstens: Das niedrige Zinsniveau wird wohl bleiben. Die Staaten werden weiter danach trachten, das Zinsniveau zu drücken. Geld auf der Bank wird Ihnen also auch künftig eher wenig Zinsen bringen. Drei Monatseinkommen als Notgroschen auf dem Tagesgeldkonto sind gut, mehr ist meistens nicht sinnvoll.
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Zweitens: Wenn das mit dem Ankurbeln der Wirtschaft klappt, profitieren die Besitzer von Firmen und die Arbeitnehmer. Ihren Job können Sie nicht so einfach ändern, aber Aktien kaufen können Sie schon. Und da empfehlen wir bei Finanztip nicht einzelne Aktien zu kaufen, sondern gleich Anteile von weltweit investierenden Indexfonds (ETF) zu nehmen. Wer sehr an Europa glaubt, auch wirtschaftlich, der kann europäische ETF in Erwägung ziehen.
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Drittens: Das Geld, also einige Zigmilliarden in Deutschland, wird hierzulande für Fördermaßnahmen ausgegeben werden, Klimaschutz und Digitalisierung vorneweg. Eins ist sicher: In den kommenden Jahren wird es zahlreiche Programme geben, die Ihre Projekte fördern, wenn sie das Geld dafür übrighaben. Beim Energiesparen hat es schon begonnen. Warten Sie mal ab, was die Regierung in den nächsten Monaten für das kommende Jahr so vorschlägt.
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Viertens: Die EU-Staaten lernen tatsächlich voneinander. Das deutsche System des Kurzarbeitergeldes wird auch in anderen EU-Staaten eingeführt. Prämien für Betriebe, die Azubis anstellen, hat jetzt auch der französische Präsident in Aussicht gestellt.
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Fünftens: Folgen Sie der Presse, folgen Sie mir (😉). Denn wir von Finanztip und die Kollegen in den Redaktionen werden in den kommenden Monaten ausgraben und aufschreiben, wo Sie noch Ihren Teil vom großen Kuchen abholen können.
Versprochen, den gibt's.
July 25, 2020 at 02:37PM
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EU-Geld für Dich und mich: 1.800.000.000.000 Euro – Wie bekommen Sie davon etwas ab? - DER SPIEGEL
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